Zur Funktion des Tempels (Fortsetzung)

Wer aber wurde in der Krypta in der nördlichen Vorhalle verehrt? Seit der Entdeckung einer Öffnung im Dach der Nordhalle gibt es für Elderkin kaum noch Zweifel daran, dass nach dem Glauben der Athener des 5. Jahrhunderts die darunter liegenden Spuren im Fel­sen von Zeus stammten, der hier sein Blitz­bündel hinschleuderte. Aber Zeus war nicht der einzige Gott, dem diese Spuren in der langen Geschichte dieses Ortes zugeschrieben wur­den. Elderkin nennt zwei Tradi­tionen: Nach der einen trieb Poseidon Erechtheus mit Dreizackhieben in eine Öffnung in der Erde, nach der ande­ren erschlug Zeus auf Bitten Poseidons Erechtheus mit seinem Blitzbündel.

Elderkin hält es daher für möglich, dass die Spuren im Felsen unter dem Bo­den der Nordhalle zuerst die des Poseidon waren und als die Anhänger des Zeus auf der Akropolis die Oberhand gewannen, errichtete man neben den Spuren, die nun vom Blitz stammen sollten, einen Altar für Zeus Hypatos. In ähnlicher Weise wurde das Meer des Poseidon später zum Erechtheis.

Gleichgültig von wem Erechtheus getötet wurde, die Spuren im Fel­sen markieren zugleich sein Grab. Diese Theorie erklärt auch das kleine Loch im Fußboden der Nord­halle nahe der Tempelwand. Wahrscheinlich opferte man dem toten Erechtheus in der gleichen Weise wie den Toten auf dem Dipylon-Friedhof, indem man nämlich ein flüssiges Opfer durch Löcher im Grabkrater fließen ließ. Im Falle von Erechtheus wurde hierbei vermutlich Ochsen­blut geopfert. Ein solches Opfer am Grab des Erechtheus bestätigt auch die Inschrift des Altars des Thyechous, der in der Halle mit der Tür stand, d. h. in der Nordhalle des Erechtheions. Der Name bedeutet „der, der das Opfer gießt“. Wer aber war dieser Thyechous? Der erste, der diesen Namen trug, war vielleicht Boutes, der immerhin so wichtig war, dass er im Tempel einen ei­genen Altar neben dem des Poseidon-Erechtheus bekam und außerdem an den Wänden des Altarraums Bilder seiner Nachkommen hingen. Boutes war nach Apollodoros der Bruder des Erechtheus und außerdem mit dessen Tochter Chthonia verheiratet. Auch kam die Opferung von Stieren in Athen anscheinend erst mit dem Kult des Erechtheus auf.

(Fortsetzung folgt …)